
In meinen Gesprächen mit Pädagoginnen und Pädagogen aus unterschiedlichen Bildungseinrichtungen kommen häufig die Schwierigkeiten mit den Eltern der anvertrauten Kinder zur Sprache. Das Fazit zu diesem Thema lautet dann oft: „Die Arbeit mit den Kindern wäre ja ganz schön, wenn nur die anstrengenden Eltern nicht wären!“ In Anbetracht der Tatsache, dass wir um den maßgeblichen Einfluss von Familiensystemen auf die Kinder wissen und aus diesem Grund davon ausgehen müssen, dass die Einflussnahme von pädagogischen Systemen auf die familiäre Lebenswelt der Kinder zunächst nur sehr bedingt möglich ist, müssen wir uns Bewusst sein, dass diese beschränkten Möglichkeiten nur auf der Basis von Vertrauen, Kooperation und gegenseitiger Wertschätzung gelingen können. In diesem Zusammenhang finde ich es spannend die Frage zu stellen, mit welchen Eltern wir es in unserer Gesellschaft und damit auch in unseren pädagogischen Einrichtungen heute zu tun haben. Wie erleben sich Eltern in ihrer Rolle? Welche persönlichen Ansprüche und Bedürfnisse haben sie? Welche Erziehungskonzepte verfolgen sie und auf welcher Basis haben sie diese Konzepte entwickelt? Welche Zukunft sehen sie für ihre Kinder?
Nach wie vor gilt der Grundsatz für Pädagoginnen und Pädagogen, den Eltern im positiven Sinne zu unterstellen, dass diese „nur das Beste für ihre Kinder“ wollen. Was aber verstehen Eltern darunter? Was ist das jeweils Beste, das Eltern wollen?
Nicht nur die Kindheit, sondern auch die Elternschaft ist von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen unmittelbar und mittelbar beeinflusst und verändert sich daher über Generationen von Eltern hinweg ständig. Das Bild von Männern und Frauen, die vielfältigeren Formen von Familie sowie deren generelle politische und gesellschaftliche Wertigkeit, neue Erfordernisse der Arbeitswelt, die kulturelle Durchmischung der Bevölkerungen, veränderte Relationen der Generationen untereinander und viele weitere Einflussfaktoren wirken sich darauf aus, wie Elternschaft heute definiert wird. Einhergehend mit diesen Faktoren steht die biografische Entwicklung der Eltern von heute im Zentrum dieses Wirkungsnetzwerks, denn die Rolle, die Eltern für sich konzipieren, leitet sich in erster Linie aus deren biografischen Erfahrungen im Hinblick auf Elternschaft und Kindererziehung ab.
In ihrem Buch „Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden“ mit dem besorgniserregenden Untertitel „Warum wir nicht auf die nächste Generation zählen können“ beschreibt die Autorin Martina Leibovici-Mühlberger Erfahrungen mit Eltern, Kindern und Jugendlichen aus ihrer psychotherapeutischen Praxis. Der Befund, den die Ärztin, Psychotherapeutin und Mutter von vier Kindern postuliert, ist ernüchternd. Demnach erlebt sie im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen, die sich durch ihr Verhalten massiv auffällig zeigen, zunehmend Eltern, die selbst nicht über die Bedürfnisregulation eines vierjährigen Kindes hinausgewachsen sind. Sie berichtet dabei von Eltern, die „verliebt sind in ihre eigene permanente Selbstdarstellung“ und aus diesem Grund nicht in der Lage sind, die altersadäquaten Bedürfnisse ihres Nachwuchses wahr zu nehmen geschweige denn diesen Bedürfnissen gerecht zu werden und in diesem Sinne als Vorbilder zu agieren, die dem Kind Sicherheit und verlässliche Beziehungen anbieten, ihm Orientierung und einen Rahmen von altersadäquaten Möglichkeiten und Grenzen geben. Kinder werden so häufig selbst zum Mittel für den narzistisch motivierten Zweck ihrer Eltern. Die Entwicklung vom Kind zu einem sozialen, empathischen, verantwortungsbewussten und selbstbewussten Menschen, der sein Leben zunehmend selbstaktiv und selbstbestimmt unter Anwendung der hierfür notwendigen Kompetenzen meistern kann, ist demnach gefährdet. Die Autorin weist ausdrücklich darauf hin, dass die Conclusio dieses Befundes nicht lautet „Früher war alles besser, die Eltern von heute sind einfach unfähig“. Es geht ihr laut eigener Aussage „weder um Schwarzmalerei, noch um notorisches Schlechtreden“. Vielmehr regt sie in ihrem Plädoyer dazu an, die Signale, die uns Kinder unmittelbar als Antwort auf unser Erziehungsverhalten geben, wahr zu nehmen, ernst zu nehmen, zu reflektieren und vor allem –darauf zu reagieren. Sie weist darauf hin, dass Erziehung des Nachwuchses immer eingebettet in ein Gesamtsystem der vorherrschenden Gesellschaft ist und somit nie nur in der Verantwortung von einzelnen Akteuren, sondern immer in der Verantwortung von vielen Akteuren in unterschiedlichen Zuständigkeiten.
Was hat das alles nun mit uns Pädagoginnen und Pädagogen zu tun, die wir in unseren Einrichtungen Stress mit Eltern haben? (Und bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass wir häufig Stress mit jenen Eltern haben, deren Kinder uns ebenso Stress verursachen.) Wie zu Beginn schon erwähnt ist unser Einflussbereich in Familiensysteme enden wollend, und das ist aus mehreren Gründen gut so. Ich denke jedoch, dass es für Pädagoginnen und Pädagogen zunehmend notwendig sein wird, Zeit und Energie in die Bildung und die sorgfältige Ausdifferenzierung eines eigenen Standpunktes zu investieren. Die Welt war noch nie nur Schwarz oder Weiß, schon gar nicht, wenn es um komplexe Themen wir Erziehung oder Bildung, kurzum um menschliches Zusammenleben und um gesellschaftliche Entwicklungen geht. Ich stelle fest, dass viele Pädagoginnen und Pädagogen Schwierigkeiten haben ihre eigene Position in komplexen Fragestellungen von Erziehung, Bildung und Gesellschaftsentwicklung klar und reflektiert zum Ausdruck zu bringen. Häufig zeigt sich, dass sie damit einhergehenden Herausforderungen desorientiert und hilflos gegenüber stehen. Eltern und Kinder, die Schwierigkeiten bereiten nötigen uns als Pädagogin/Pädagogen geradezu, der oft lange ignorierten Anforderung nachzukommen und die eigene Positionierung und Meinungsbildung im Hinblick auf schwierige Fragestellungen engagiert anzugehen. Vielleicht kratzen sie dabei sogar manchmal an wunden Punkten in Bezug auf die eigene Elternrolle.
Um eine Idee davon zu geben, von welchen Leitgedanken die Auseinandersetzung und die Bildung eines jeweils eigenen Standpunktes getragen werden könnte, entleihe ich mir einige Anregungen aus dem genannten Buch von Martina Leibovici-Mühlberger:
(Zitate aus: Leibovici-Mühlberger, Martina, 2016, S. 152 – 155)
„[…]Gebt den Kindern, was sie wirklich brauchen und drückt euch nicht davor, sie zu erziehen. Kinder brauchen sorgsam und respektvoll gesetzte Grenzen. Genauso wie sie Eltern brauchen, die wirklich für sie da sind. Vergesst nicht: Beziehung kann man nicht kaufen, man muss sie leben, in vielen tausenden kleinen Momenten. Nicht im Geschenkehaufen unter dem Christbaum, nicht im großzügigen Taschengeld, nicht im mühsam erwirtschafteten Luxusgut aus der Technikkiste der Unterhaltungsindustrie oder in endlosem Online- Shopping werdet ihr Beziehung finden können. Es ist der kleine, unspektakuläre Moment, das gemeinsam Geteilte und Erlebte, das Beziehung begründet[….]“ „[….] Erfüllt also nicht die Wünsche eurer Kinder, sondern in erster Linie ihre Bedürfnisse![…]
[…]Zeigt ihnen also Grenzen, die sie schützen und einen inneren Raum markieren, den sie selbst verwalten können, um sich zu erproben. Bietet Kindern einen „artgerechten“ und nicht einen „konsumgerechten“ Lebensraum. Einen, der sich mit all den Sinnen erfahren lässt, mit denen sie geboren werden und die sich entwickeln sollen[…]
[…] Setzt euch dafür ein, dass Kindergärten Orte des sozialen Lernens der Gemeinschaft sind und darin höchste Qualitätskriterien erfüllen. Fordert laut, dass Schule ein wirklicher Ort der Bildung und nicht nur der Ausbildung ist. Bildung im alten humanistischen Sinn bildet und formt die Seele. Bildung hilft, die Deformierungen und Störungen der Seele zu beseitigen und – das ist wohl die Hauptleistung der Bildung –prophylaktisch deren Verfall vorzubeugen. Bildung soll der Seele starke Bilder zuführen, zum Handeln anleiten und Orientierung geben, damit sich der Mensch auf seinem Lebensweg nicht in der Flut von Bildern oder Reizen verliert. […]
[…] Stellt eure Forderungen an die Politik und hört nicht auf damit laut zu sein, denn es steht eine ganze Menge auf dem Spiel. Die Politik muss sich endlich damit befassen, wie diese ach so erfolgreiche Konsumgesellschaft mit ihren Kindern, ja mit dem Abschnitt Kindheit an und für sich, umgeht und wie sich das aus dem Blickwinkel eines Kindes wohl anfühlen mag.[…]
[…]Fordert von all jenen, die aus dem Elfenbeinturm heraus eine „leistungsstarke Zukunftsgeneration“ beschwören, dass sie die Kinder endlich ernst nehmen, nämlich als Kinder, und sie als solche vertreten. Ein Kinderministerium, dass sich mit der Zuträglichkeitsprüfung unserer gesellschaftlichen Umwelt und der Übersetzung kindlicher Bedürfnisse in die Alltagswelt beschäftigt, wäre ein guter Anfang.[…]
Wenn wir als Pädagoginnen und Pädagogen auf Basis unseres Grundlagenwissens, unserer Erfahrungen und unserer Erkenntnisse zu einer klaren Positionierung im Sinne der genannten Forderungen für die Kinder gelangen und Eltern dazu einladen können im Sinne ihrer Kinder und in ihrem eigenen Interesse diese Position mit uns zu Teilen, so bewirkt dieses Teilen eine Vervielfachung von gemeinsamer Stärke und damit verbundenen Chancen im Hinblick auf die Zukunft, die nicht nur die der Kinder, sondern auch unsere eigene sein wird und in der wir, wider berechtigter Befürchtungen, hoffentlich doch auf die nächste Generation zählen können.
Birgit Ed(ublog)er(in)